Wie wollen wir leben?
Weniger Stau, weniger schädliche Emissionen, weniger Unfälle: Dieses Ziel verfolgen Städte weltweit. Die Geister scheiden sich an der Methode. Drei gelungene Beispiele.
(Dieser Text erschien am 1. Juli in der Zeitschrift SI GRUEN unter dem Titel «Aus Parkplatz wird Fluss».)
Ein Gummiboot auf dem Reep, Blumen am Geländer, eine Fussgängerzone rundum. So romantisch präsentiert sich die Innenstadt von Gent, zweitgrösste Stadt von Belgien. Das Idyll existiert erst seit 2018. Denn: Während rund sechzig Jahren war der Flusslauf zugeschüttet, mit Beton belegt und als Parkplatz genutzt worden.
Szenenwechsel: ein paar Bäume links, ein Fluss rechts, ein schönes Plätzchen. Ein junges Pärchen turtelt und ein Rentner mit Dächlikappe schaut spielenden Kindern zu. So stellt sich das Studio Vulkan die Zukunft des Gebiets rund um den Hauptbahnhof Zürich vor. Das Büro für Landschaftsarchitektur ist eines von zwei Teams, die vor kurzem ihre Zukunftsvision für diese Areale präsentiert hatten. Klingt harmlos, doch dieser «Masterplan HB/Central 2050» wurde umgehend Gegenstand einer kontroversen Debatte, die noch viele Jahre andauern wird.
Warum? Dem Auto soll künftig ein bisschen weniger Platz eingeräumt werden als heute. Das sorgt nicht nur in Zürich für Streit, ähnlich gelagerte Debatten gibt in unzähligen Städten weltweit. Die Bürgermeisterin von Paris wird 70’000 Parkplätze abbauen, der New Yorker Stadtrat bewilligte 1,7 Milliarden Dollar, um Platz für Zufussgehende und Velofahrende zu schaffen – auf Kosten der Autofahrerinnen und Autofahrern.
Die Ziele sind überall ungefähr dieselben und werden kaum in Frage gestellt: weniger schädliche Emissionen, weniger Stau, weniger Unfälle. Die Geister scheiden sich an der Methode: Können wir die freie Fahrt jener Maschinen einzuschränken, von denen diese Emissionen kommen? Ist das überhaupt möglich?
Beantworten können die Städte diese Frage nur im Dialog mit den Menschen, die dort leben und arbeiten. Doch als Beitrag zur Verständigung porträtieren wir hier drei Städte, die bereits mit ihrem Umbau begonnen haben – und zeigen, welche Erfahrungen sie gemacht haben.
Pontevedra
In der Innenstadt von Pontevedra gibt es keine Ampeln, keine Strassenmarkierungen, nicht einmal Trottoirs. Die wichtigste Verkehrsregel lautet: Fussgänger haben Vortritt. Diese Regel gilt seit 1999. Damals wurde Miguel Anxo Fernández Lores zum Bürgermeister gewählt, der die historische Innenstadt umgehend zur Fussgängerzone erklärte. Autos sind erlaubt für alles, was wichtig ist: Krankentransporte, Lieferungen, Zugang zu privaten Parkplätzen, Transport von Menschen mit Behinderungen. Selbst private Autos sind nicht verboten, nur abstellen kann man sie nicht länger als 15 Minuten. Das reichte, um den Autoverkehr so weit zu eliminieren, dass sich Pontevedra heute zurecht als «Stadt ohne Autos» bezeichnet.
Die Bevölkerung ist um fast 20 Prozent gewachsen, heute leben in der nordspanischen Stadt 83’000 Menschen, so viele wie in Luzern. Während in der Schweizer Stadt fast jedes Jahr Menschen im Verkehr getötet werden, ereignete sich in Pontevedra in den letzten 13 Jahren kein einziger tödlicher Verkehrsunfall. Und die Bevölkerung? Sie will offensichtlich nicht mehr zurück zur autogerechten Stadt – Fernández Lores wurde seit 1999 viermal wiedergewählt worden und ist noch heute im Amt.
Market Street, San Francisco
Die Market Street ist eine der wichtigsten Verkehrsachsen von San Francisco und verbindet mehrere Quartiere miteinander. Seit 2020 ist sie auf einer Länge von 3 Kilometern autofrei. Kritiker prophezeiten damals den «Carmaggedon», einen endzeitlichen Verkehrskollaps auf allen umliegenden Strassen. Als am 29. Januar 2020 das Fahrverbot in Kraft trat, war das Verkehrschaos: genauso wie immer. Der Verkehrsinformationsdienst Inrix analysierte GPS-Daten stellte fest, dass die Autofahrer einzig auf der parallel verlaufenden Mission Street zwischen 10 und 60 Sekunden mehr Zeit brauchten als zuvor. Eine Strasse weiter waren die Einflüsse verschwindend gering.
Auf der Market Street hingegen wurden bereits einen Tag nach der Sperrung 20 Prozent mehr Velofahrer:innen gezählt, 75'000 Reisende im öffentlichen Verkehrs waren bis zu 12 Prozent schneller unterwegs und 500'000 Zufussgehende profitieren von mehr Platz, weniger Lärm und besserer Atemluft. Aus ihrer Sicht wäre es wohl treffender, nicht von einer Sperrung der Market Street zu sprechen, sondern von einer Öffnung.
Gent
Filipp Watteeuw wollte die Verkehrsprobleme lösen, wie es die Niederländer vorgemacht hatten. Aber nicht in Jahrzehnten, sondern noch vor den nächsten Wahlen. Watteeuw ist seit 2013 Stadtrat in Gent. 2017 setzte er den «Circulatieplan» in Kraft, der den Verkehr reformieren sollte. Der Plan teilt das Zentrum von Gent – fast so gross wie Basel Stadt – in 7 Zonen ein. In der Mitte eine grosse Fussgängerzone, rund herum sechs Zonen, in die jeder mit dem Auto hineinfahren kann. Von einer Zone in die nächste gelangt man nur zu Fuss, mit dem Velo oder dem öffentlichen Verkehr, aber nicht mit dem Auto. Durchgesetzt werden die Fahrverbote mit Kameras, die fehlbare Autofahrer:innen identifizieren. Das ermöglicht Ausnahmen für alle unverzichtbaren Fahrten.
Auch in Gent sagten Kritiker den Untergang der Stadt vorher. Als im April 2017 der «Circulatieplan» in Kraft trat, kamen Medien aus dem ganzen Land, wohl um Watteeuw scheitern zu sehen. Doch die Verkehrsreform verlief geschmeidig, die Stadt ging auch nicht unter. Innert zwei Jahren fuhren nur noch halb so viele Autos durch Gent, fast alle sind heute zu Fuss, mit dem Velo oder öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Selbst Kinder fahren ohne Eltern mit dem Fahrrad zur Schule. Untergegangen ist in Gent nur ein Parkplatz: In den 60-er-Jahren gab es in der Stadt so viel Verkehr, dass die Behörden den Fluss Reep trockenlegten, um Platz für die Autos zu schaffen. Heute ist die Reep wieder ein Fluss.
Projekte wie in Pontevedra, San Francisco und Gent gibt es überall auf der Welt: Palermo, Olso, München, Hamburg, Madrid, Birmingham, Paris, Eindhoven, Brüssel, Helsinki, New York – selbst Kolumbiens Hauptstadt Bogotà – krempeln den öffentlichen Raum um, damit die Stadt ein guter Platz zum Leben wird.
Interview Thomas Sauter-Servaes
«Wir können zu Pionieren werden»
Interview: Felix Schindler
Viele Städte weltweit streiten über die Frage: Wohin mit den Autos? Warum ist diese Frage so kontrovers?
Thomas Sauter-Servaes: Weil einige befürchten, zu den Verlierern dieser Transformation zu gehören. Ich verstehe das, das kann eine existentielle Tragweite haben. Gleichzeitig produziert die Massenmobilisierung schon jetzt sehr viele Verlierer. Autos, die oft von aussen in die Städte kommen, beanspruchen enorm viel Platz, bringen Feinstaub, machen Lärm und verursachen Unfälle. Die Menschen in den Städten atmen den Feinstaub und werden von Autos angefahren – ob sie selbst ein Auto besitzen oder nicht.
Die Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse – wie kann eine Stadt möglichst vielen von ihnen ein gutes Umfeld bieten?
In dem wir uns auf eine gemeinsame Vision verständigen. Wir alle wollen robuste Städte, in denen wir auch in einer wärmeren Zukunft gut leben können. Städte, die vor allem als Aufenthaltsräume gestaltet sind, nicht Transferräume. Für den Verkehr heisst das: Wir möchten mobil sein, sollten dabei aber möglichst wenig Verkehr erzeugen.
Verkehr und Mobilität ist nicht dasselbe?
Ob das Lebensmittelgeschäft 10 Kilometer oder 2 Kilometer entfernt ist, hat auf meine Mobilität – also die Möglichkeit, meine Einkäufe zu erledigen – keinen Einfluss. Aber ich nutze eher das Auto, erzeuge fünfmal so viel Verkehr, emittierte mindestens fünfmal so viel CO2 und Feinstaub. Viele Städte, zum Beispiel Paris, streben deshalb eine Stadt der kurzen Wege an, in der alles Wichtige zu Fuss oder mit dem Fahrrad erreichbar ist. Der Schlüssel ist, alternative Angebote zum Auto zu schaffen, die dem Umstieg leichter machen. Nur dann wird die stärkere Regulierung des Autoverkehrs die notwendige Akzeptanz erhalten.
Für viele ist der Autoverkehr eine fixe Grösse – er wird niemals verschwinden.
Wir haben in der Schweiz einen öffentlichen Verkehr geschaffen, für den wir weltberühmt sind. Wir können auch zu den Pionieren für enkeltaugliche Städte werden. Einigen Veränderungen, etwa dem Klimawandel, müssen wir uns anpassen, ob wir wollen oder nicht. Die entscheidende Frage ist: Wollen wir diese Transformation selbst gestalten oder warten wir, bis wir uns nur noch um die Eindämmung der Schäden kümmern können?
PDF des Original-Artikels, SI GRUEN, 1. 7. 2022: Aus Parkplatz wird Fuss